1. Motivation des Themas

1.1. Welche zunehmende Bedeutung kommt dem Web 2.0 zu?

Der Begriff Web 2.0 wurde erstmals von Dale Dougherty (Vice President von O’Reilly Media) und Craig Cline (Media Live) im Zuge der Planung einer im Oktober 2004 stattgefundenen Konferenz geprägt. Da die Konferenz ein großer Erfolg wurde und die Teilnehmer einen Wendepunkt im World Wide Web (WWW) wahrnahmen, wurde an diesem Begriff festgehalten. Erst nach einem Jahr schrieb Tim O’Reilly (Gründer und CEO von O’Reilly Media) den als wichtigste Beschreibung geltenden Artikel „What Is Web 2.0“ (vgl. Szugat, Gewehr, Lochmann 2006, 15). Nach Auffassung von Prof. Kerres (Fachbereich Mediendidaktik Universität Duisburg / Essen) und weiteren Kollegen erlangt Web 2.0 im E-Learning-Bereich eine zunehmende Bedeutung. Der Begriff Web 2.0 steht dabei nicht ausschließlich für technologische Neuerung in der Onlinewelt. Vielmehr werden danach vorhandene Technologien vollends und bewusster ausgenutzt und vermitteln so ein neues Erscheinungsbild des Internet. Die wesentliche Trendwende in diesem neuen Netzverständnis ist die Verschiebung der bisher auf dem heimischen PC laufenden Anwendungen ins Netz (vgl. Kerres 2006, 1). Dort spricht man von „Social Software“, da diese zur Unterstützung der Kommunikation innerhalb menschlicher Netzwerke genutzt wird (vgl. Szugat, Gewehr, Lochmann 2006, 13). Durch dieses Online-Arbeiten in Wikis, Weblogs oder auch Podcasts werden Gemeinschaften (Communities) im Internet geschaffen, in denen sich der Internetnutzer nicht länger mit seiner Rezipientenrolle begnügt, sondern selber aktiv wird, zum Produzenten avanciert und sich z.B. auf Plattformen wie Flickr mit Gleichgesinnten über sein Hobby, das Fotografieren, austauscht. Neben dieser neuen Handhabung des Internets, in der der User Inhalte schafft, Fehler korrigiert und so „lebendige“ Webseiten kreiert („User vs. Autor“) (vgl. Kerres 2006, 2), lassen sich zwei weitere Neuerungen gegenüber dem Web 1.0 erkennen. Die Grenze zwischen lokal abgespeicherten Daten und zur Publikation auf Servern abgelegten Daten wird aufgesprengt („lokal vs. entfernt“). Durch die zunehmende Abdeckung mit Breitbandzugängen und die durch Flatrates ermöglichte anhaltende Verbindung zum Internet, stellt es nicht mehr nur eine Alternative dar, Daten auf Servern abzuspeichern sowie in vollständig ins Web integrierten Tools (z.B. GoogleDocs, YouOS oder Thinkfree) zu verarbeiten. Vielmehr ist dies zur optimalen Lösung geworden, da man nahezu all seine Daten jeder Zeit und an jedem Ort zur Verfügung hat. Die dritte „aufgeweichte“ Grenze beschreibt Kerres mit dem Publizieren des Privaten („privat vs. öffentlich“). Das Internet wird zur Selbstdarstellung genutzt (z.B. MySpace). „Alles kann allen gesagt werden“ – unabhängig von irgendwelchen Filtern (Kerres 2006, 3f.).

1.2. Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für den Bildungskontext und ein E-Learning 2.0?

Diese Grenzziehung lässt sich nach Kerres auch in den Bildungskontext überführen. Danach ist die Grenze zwischen Autor und User gleichzusetzen mit der Lehrer-Lernenden-Beziehung, die bei konsequenter Auslegung der Ansätze von Web 2.0 aufzubrechen wäre (vgl. Kerres 2006, 4), da nun der Lernende selbst Inhalte zusammenstellen kann. Auch die Abgrenzung von lokaler und entfernter Datenaufbewahrung und -verarbeitung (zu Hause vs. Bildungseinrichtung) ist vergleichbar. Durch mobile Endgeräte (z.B. PDA, Handy oder Notebook) ist der Zugang zu den Daten von überall möglich. Zuletzt setzt Kerres das „Private“ mit dem Lernen und das „Öffentliche“ mit dem Ablegen von Prüfungen gleich. Durch das Aufschmelzen dieser Grenze wird das Lernen zur Performanz, in der der Lernende seine Lernaktivität in Foren und Weblogs Transparent macht (vgl. Kerres 2006, 5). Unter E-Learning versteht man vom Lehrenden Content für die Lernenden aufzubereiten und auf Servern zugänglich zu machen – auf Lernplattformen („Inseln“). Mit dem Netzverständnis von Web 2.0 und der angebotenen Social Software ist es nun möglich eine neue Art der Lernplattform zu schaffen. Versteht man das Internet nämlich als Pool an Information (Stichwort: Open Content), der sich immer weiter entwickelt und so eine hohe Qualität an Wissen zur Verfügung stellt, so liegt mit E-Learning 2.0 die Herausforderung darin, eine Lernumgebung zu schaffen, die als „Portal“ zum Internet zu verstehen ist (vgl. Kerres 2006, 6) – eine Schnittstelle zwischen Internetwissen und Lernenden. Der E-Tutor (Lehrende) greift nur noch als Wegweiser ein, indem er kleine Lerninhalte (Microcontent) im Portal zur Verfügung stellt, die die Tür zum selbstgesteuerten Internet-Lernen aufstoßen sollen, um die gestellten Lernziele zu erreichen. Diese werden zu Beginn z.B. via Blog-Eintrag oder Podcast durch den E-Tutor formuliert. Dabei sollte die Lernumgebung auf vorhandene, dem Lernenden bekannte Werkzeuge der asynchronen und synchronen Kommunikation (u.a. Blogs, Wikis, ICQ, Google usw.) im Internet zurückgreifen. Zur Zusammenstellung der relevanten Bloginhalte aller Studenten und zum Aggregieren anderer Blogs zum jeweiligen Thema kann ein Feedaggregator nach Wahl eingesetzt werden. Somit entsteht eine „subjektiv angepasste Schnittstelle“, in dem jeder Nutzer seine „kollaborativen Content-Produktions-Tools nach individuellem Interesse bündeln“ (Wagner 2006) kann. Damit setzt sich die Lernumgebung nicht aus einer Anwendung sondern aus mehreren individuell zusammengestellten und miteinander operierenden Tools zusammen (vgl. Downes 2005). Geprägt wurde in diesem Zusammenhang der Begriff des „Personal Learning Environment“ (PLE). In einem PLE findet die individuelle Reflexion des Lernenden in Weblogs oder Podcasts und kollaboratives Arbeiten in Wikis statt (vgl. Kerres 2006, 6). Die Lehrinhalte werden den Bedürfnissen und Wünschen der Studenten entsprechend weiter genutzt und gemixt (vgl. Downes 2005). Somit ist Lernen nicht mehr nur der Transfer und Konsum von Inhalt und Wissen sondern auch die Produktion selbiger (vgl. Downes 2006). Mark van Harmelen fasst die Eigenschaften eines PLE’s wie folgt zusammen:

Personal Learning Environments are systems that help learners take control of and manage their own learning. This includes providing support for learners to

  • set their own learning goals
  • manage their learning; managing both content and process
  • communicate with others in the process of learning

and thereby achieve learning goals.“

(van Harmelen 2006)

Für viele Autoren stellen PLE’s die Antwort auf die politische Forderung nach „Lebenslangem Lernen“ dar (vgl. Wagner 2006, van Harmelen 2006, Downes 2006 u.a.), da mit einem PLE schon frühzeitig ein individuelles Set von Lerntools arrangiert werden kann, welches auch für die Fort- und Weiterbildung sowie das private Lernen unabhängig von formalen E-Learning-Plattformen nützlich ist. Langfristig gesehen kann sich daraus über das PLE hinaus eine „persönliche Lernlandschaft“ entwickeln, die ein „interaktives Portal mit allen Zugängen zur persönlichen digitalen Welt“ des Einzelnen darstellt. In einem „permanenten Wissensproduktionsprozess […] aggegregiert jede Person ihre Daten und Inhalte nach persönlichem Interesse, reflektiert und mixt diese je individuell zusammen und teilt sie im gewünschten sozialen Kontext mit.“ So können Inhalte qualitativ aufgewertet werden und der Einzelne wird anhand seiner etablierten persönlichen Favoriten zum Experten (vgl. Wagner 2006).

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2 Gedanken zu „1. Motivation des Themas

  1. Lucas

    Hallo,
    kurze Frage zu folgendem Auszug: …Dabei sollte die Lernumgebung auf vorhandene, dem Lernenden bekannte Werkzeuge der asynchronen und synchronen Kommunikation (u.a. Blogs, Wikis, ICQ, Google usw.) im Internet zurückgreifen..

    warum sollten die werkzeuge bekannt sein? ist es nicht auch sinnvoll unbekannte werkzeuge einzusetzten, die einen großen mehrwert bieten?

    danke&viele Grüße!
    lucas

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  2. Thomas Beitragsautor

    Hallo Lucas,

    selbstverständlich können auch neue bisher unbekannte Werkzeuge Verwendung finden. Gemeint war hier eher der Aspekt, dass man dem Lerner nicht vorschreibt welches Kommunikationstool er nutzen soll (und ggf. erst erlernen muss). Also wenn er z.B. mit ICQ gewohnt ist zu arbeiten, soll er dies auch in der persönlichen Lernumgebung können.

    Beste Grüße,

    Thomas

    PS: Freut mich übrigens, dass unser nun fast drei Jahre altes Exposé noch als Grundlage für Diskurse dient.

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